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Nüchtern Reisen
Egmond aan Zee ist schon lange einer meiner Lieblingsorte. Wenn ich ein paar Tage Zeit habe zwischendurch fahre ich gern hierher. Sobald ich bei der Ankunft aus dem Auto steige, legt sich ein Schalter um und ich fühle mich entspannt. Die Luft der weite Strand, die Unendlichkeit der Nordsee – all das lässt meine Seele direkt zur Ruhe kommen.
Ich liebe es stundenlang durch die schier endlosen Dünen zu laufen oder in einem der zahllosen Cafés die Aussicht zu genießen. Hier sitze ich jetzt. In einem Strandpavillon in Egmond vor mir einen Kaffee und ein Stück Apfelkuchen und schreibe diese Zeilen mit der Hand, weil das irgendwie ohnehin viel cooler ist. Und ich denke über Urlaub nach. Reisen.
Reisen ist meine ganz große Leidenschaft. Fremde Orte zu besuchen, die Menschen kennenzulernen, das Essen zu genießen. Vor allem am Meer zu sein. Das Meer und ich gehören einfach zusammen das ist mir schon lange klar. Als ich mich entschieden nüchtern zu leben, hatte ich vor vielem Angst. Eine der ganz großen Ängste war, dass Reisen einfach nicht mehr sein würde, was es vorher mal war. Und das ist es auch nicht. Es ist anders. In Wirklichkeit ist es viel besser geworden.
Früher.
Zu reisen und im Urlaub zu sein, das war rückblickend immer vor allem die Entschuldigung dafür viel zu viel Alkohol zu trinken. Viel mehr noch als Zuhause. Denn im Urlaub darf man sich ja „was gönnen“. Auch ist tagsüber zu trinken gesellschaftlich im Urlaub vollkommen akzeptabel. Ein Bier zu Mittag am Pool (oder auch zwei), ein, zwei Cocktails am Nachmittag, den Aperitif vor dem Dinner und dann Vino bis zum abwinken – alles völlig okay und ganz „normal“.
Ich erinnere mich noch an eine Reise nach Kroatien 2019. Eine wunderschöne Ferienwohnung im Haus einer reizenden, kroatischen Familie in der Nähe von Zadar. Wir hatten zwei Balkone, beide mit Meerblick, und die Ruhe war ohrenbetäubend. Genau das, was wir in diesem sehr geschäftigen Jahr brauchten, wonach wir uns sehnten, mein Mann und ich: Stille. Und statt die Stille zu genießen und wahrhaftig zur Ruhe zu kommen, habe ich jeden Tag ernsthaft gesoffen.
Ich weiß noch, wie irre peinlich mir beim Checkout der Berg von leeren Bier- und Weinflaschen war, den wir (vor allem ich) innerhalb von nur einer Woche produziert hatten. Ich bestand gegen den Protest meines Mannes (ihm war das nicht peinlich- warum auch? Er war ja nicht das Problem) darauf, dass wir das Zeug in unseren Mietwagen laden und auf dem Weg zum Flughafen in einen Container entsorgten.
Ein Urlaub bedeutete immer, dass ich ab mittags leicht angegetüddelt war. Um diesen Zustand zu halten war regelmäßiges Nachgießen dringend erforderlich. Und um dann am Abend den gewünschten Entspannungszustand zu erreichen, war im Urlaub nicht selten der Einsatz von harten Alkoholika das Mittel der Wahl, die ich sonst üblicherweise mied.
Morgens dann aufwachen mit dickem Kater. Diesen dann mühevoll mitschleifen, bis ich dann gegen 11:30 Uhr endlich mithilfe des ersten Poolbiers etwas dagegen unternehmen konnte. Manchmal gab es auch schon früher was. In der Ferienwohnung beim Frühstück machen. Ich hasste es aus gutem Grund, wenn mein Mann schon früher wach wurde und mir dabei zusah- ihm hätte das sicher nicht gefallen, wenn ich schon vor dem Frühstück Alkohol trinke. Aber für mich es war ja Urlaub. Zuhause würde ich sowas ja nie machen. Dachte ich.
In den All-Inclusive- Anlagen dieser Welt lohnt es sich immer, den bierbäuchigen deutschen (oder wahlweise britischen) Rentner im Auge zu behalten. Wenn es darum geht, den Run auf die Zapfanlage der Poolbar früh am Tage zu eröffnen, kann man sich auf diese Sorte Leute 100 % verlassen. Und solange man nicht die Erste ist, ist ja alles in Ordnung, gibt es ja kein Problem, richtig?
Von der letzten „Trinkreise“ durch Vietnam und Kambodscha habe ich ja schon in meinem Artikel „500 Tage Freiheit“ insofern erzählt, als fünf Margaritas in der Sonne gelegentlich zu Verletzungen der unteren Extremitäten führen können. Ich habe in jedem Urlaub sehr viel Zeit darauf verwendet, den Kater zu verarbeiten, den Pegel aufzubauen, den Spiegel zu halten, die Entspannung zu erreichen (und das alles oft ohne nach außen auch nur angetrunken zu wirken) und wieder von vorne.
Und dann wurde ich nüchtern.
Ich wollte auf gar keinen Fall das Reisen aufgeben mein Liebstes überhaupt. Auf meiner ersten Reise als „Babysober Baby“ ging es nach gerade mal sechs nüchternen Wochen ausgerechnet nach Frankreich.
Ich hatte uns extra eine Wohnung mitten im Nirgendwo gebucht mit schöner eigener Terrasse, Meerblick und null Nachbarn oder Entertainment. Diese Wahl der Unterkunft hatte ausschließlich strategische Gründe. Spaziergänge in der Natur mit anschließendem Genuss von Eau Minéral auf der eigenen Terrasse – jederzeit und ohne Probleme möglich. Der Besuch von Bars, Kneipen und Restaurants hätte hingegen ebenso wie eine Stipvisite im örtlichen Supermarkt eine mindestens 20-minütige Autofahrt vorausgesetzt. Kurzschlusshandlungen ausgeschlossen.
Zum Glück haben alkoholfreies Bier und Wein mich nie getriggert. Also habe ich genau das im Supermarkt auf der Hinfahrt gekauft. Wir hatten wunderbare klare Nachmittage und Abende bei alkoholfreiem Bier und Pasta auf unserer Terrasse, sehr erholsame Nächte und Morgenspaziergänge ohne Kopfschmerzen. Mein Mann, der beste aller Ehemänner, ist von Anfang an aus Solidarität einfach mit nüchtern, obwohl er niemals ein Problem hatte. Auf dieser Reise habe ich angefangen, ein Dankbarkeitstagebuch zu führen und jeden Morgen und jeden Abend 5 Minuten lang alle Dinge aufzuschreiben, für die ich an diesem Tag Dankbarkeit empfand. Nur 5 Minuten jeweils, die, das behaupte ich heute, mein Leben verändert haben und zwar nachhaltig.
Warum denke ich das?
Viele Menschen haben Angst, den Alkohol gehen zu lassen. Mir ging es auch so. Ich hatte wahnsinnige Angst, dass mein Leben, wenn ich es in ein nüchternes Leben verwandelte, nur noch aus Verzicht, Vermeidung und Unterlassen bestehen würde. Dass ich nur noch damit beschäftigt wäre zu bereuen, dass ich es so weit hatte kommen lassen. Mir selbst leid zu tun, weil ich jetzt nie wieder Wein trinken in „dürfte“. Alle zu beneiden, die weiter den Wein „genießen“ „dürfen“ und mich nie wieder so richtig zugehörig fühlen zu können. Und mit am meisten Angst hatte ich in diesem Zusammenhang davor, dass mir das Reisen dann jetzt verleidet wäre.
Ich lag so unfassbar falsch. Hätte ich gewusst, wie sehr ich falsch lag, hätte ich schon viel früher den Start in mein nüchternes Leben gewagt. Ich habe so unendlich viel gewonnen. Und das Dankbarkeitstagebuch hat mir von Anfang an geholfen, mein Gehirn auf „Gewinn“ zu programmieren statt auf „Verzicht“.
Dinge, die ich in Bezug auf Reisen in meinem nüchternen Leben gewonnen habe:
- tiefen, festen, erholsamen Schlaf, egal wo auf der Welt ich mich befinde
- Echte Begegnungen mit Einheimischen, ohne Schleier oder Peinlichkeiten
- Sonnenaufgänge! (Meine neue Reiseleidenschaft)
- Sonnenuntergänge ohne verschwommene Sicht
- Lesen! Richtige echte tolle Bücher (vorher ab 14:00 Uhr war allenfalls noch die Gala drin)
- Yoga und Meditation am Morgen für tiefe Verbundenheit und Dankbarkeit
- Echte Zweisamkeit mit dem besten aller Männer
- Ausgiebige Hikingtouren
- Endlose Motorradtouren
- volle Unabhängigkeit von manchmal spärlichem ÖPNV
- Richtige Erholung statt des Gefühls nach dem Urlaub erst mal Urlaub zu brauchen
Selbst meine Flug- und Höhenangst sind viel besser geworden.
Nun sitze ich hier. 800 Tage nüchtern und zum vierten Mal nüchtern in Egmond seit Beginn meines neuen Lebens. Vor Egmond hatte ich beim ersten Mal nochmal anders Respekt, weil dies der einzige Ort ist, an den wir schon oft gereist sind in den letzten 15 Jahren und weil dieser Ort (außer meiner Küche vielleicht) wie kein anderer dadurch verknüpft war mit Alkohol. „Aufforderungscharakter der Umgebung“ nennen wir Suchtberater das. Würde es schwer werden, das Programm zu überschreiben? Würde es mir schwerfallen im Strandpavillon Heineken 0,0% zu bestellen oder Ingwertee?
Und dann war es ganz leicht. Weil ich so viel gewonnen habe. Weil es so viel gibt in diesem neuen, freien Leben, für das ich unendlich dankbar bin. Weil es nichts gibt, was ich gerne dämpfen würde. Oder intensivieren. Abschalten. Oder anschalten. Dieser Ort ist perfekt. Genau SO wie er ist. Ich fühle mich an diesem Ort genau richtig. Es gibt nichts zu verändern. Ich fühle Frieden. Und Freiheit. Innen wie außen. Für nichts in der Welt würde ich das gefährden. Schon gar nicht für Gift.