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Familienbande
Wie konnte mir das passieren?
Diese Frage beschäftigt mich. Bei einer so komplexen Frage ist es natürlich klar, dass es keine einfache und eindimensionale Antwort geben kann. Aber ich möchte mich der Antwort annähern. Ich möchte verstehen, wie es soweit kommen konnte. Dass ich hier sitze. Auf meiner Couch. An meinem Tag 1. Kaputt fühle ich mich, so richtig bis in die Knochen erschöpft. Und gleichzeitig auch irgendwie aufmerksam, neugierig. So als wollte man todmüde ins Bett gehen und entdeckt dann auf dem Weg dahin noch eine wunderschöne Sternschnuppe, die einen nochmal innehalten und aus dem Fenster schauen lässt.
Ich fange mal ganz am Anfang an. Da gibt es dieses Foto, wo ich, gerade mal etwa 3 Jahre alt, mit einer Zigarette im Mund posiere. Meine Mutter hält das Feuerzeug an die Spitze und fordert mich offensichtlich auf, die Zigarette für sie „anzuziehen“. Auf dem Tisch ein Weinglas und meine Babyflasche.
1978 war das nicht so ungewöhnlich. Was die Gefahren des Rauchens und des Trinkens anging, war die Gesellschaft der späten 70er noch erstaunlich naiv. Oder besser gesagt: Zu dieser Zeit glaubte man noch an die Märchen der Industrie rund um ihr Gift. Dass man in dem Alter schonmal an Papas Bier nippen durfte und die Erwachsenen sich köstlich amüsiert haben über den angewiderten Gesichtsausdruck, das war normal und gehörte einfach dazu. Treffen unter Erwachsenen ohne Alkohol waren nicht denkbar.
Meine Großeltern mütterlicherseits wohnten im gleichen Haus wie wir, sie im Erdgeschoss, wir in den beiden oberen Etagen. Aus vielen Gründen eine der schlechtesten Ideen, die meine Eltern je hatten war, in dieses Haus zu ziehen. Meine Oma M. war aus heutiger Sicht eine sehr unglückliche Frau, neidisch und missgünstig und immer sehr darauf bedacht, was „die Anderen“ denken könnten. Sie hat unsere Familie ausspioniert und terrorisiert. Ich habe als Kind oft mitbekommen, wie meine Mutter wütend, traurig und verzweifelt deswegen war. Aber wir sind nie weggezogen. Ich vermute, das hatte auch finanzielle Gründe. Und dann waren da die Verstrickungen. Meine Mutter hatte noch zwei 6 und 9 Jahre ältere Brüder. Beide Alkoholiker. Zu dem ältesten Bruder J. pflegte man keinen Kontakt mehr, seit er wohl mehrfach betrunken an der Tür meiner Großeltern randaliert hatte. Er wohnte mit Frau und Kind nur ein Stück die Straße hinunter, aber er war im Hause meiner Großeltern „Persona non Grata“. Da er mein Patenonkel war und das im katholischen Rheinland damals noch etwas zu bedeuten hatte, wurde ich zu besonderen Gelegenheiten (sein Geburtstag, mein Geburtstag, Weihnachten etc.) von meiner Mutter pflichtschuldig dorthin geschickt. Ich war eigentlich ganz gern dort und verstand ohnehin die ganzen Zusammenhänge nicht, aber das ganze Verhältnis war eher von peinlichem Schweigen und erzwungener Konversation als von herzlicher Zuwendung geprägt. Als ich älter wurde, bin ich nicht mehr hingegangen.
Der mittlere Bruder, K., war ganz offiziell in einer Langzeittherapie für Alkoholabhängige. Meine Mutter hatte richtig Stress mit ihrer Mutter, weil sie mir in einem unbedachten Moment (oder wie ich heute denke: in angetrunkenem Zustand) von dem wahren Grund der „Kur“ meines Onkels berichtet hatte. Meine Oma war außer sich. Nichts war schlimmer, als wenn unangenehme oder sogar solche hochnotpeinlichen Dinge offen besprochen wurden. Ich erinnere mich wie Jahre später mein Cousin mal bei ihrem „Namenstagskaffe“ (der Namenstag war im Rheinland damals der wichtigere Feiertag gegenüber dem Geburtstag) erzählte, sein Ausbildungsbetrieb sei pleite gegangen und er als Lehrling dadurch nun vorübergehend arbeitslos. Unsere Oma hat ihn direkt scharf angefahren, was ihm einfiele, sowas „vor allen Leuten“ zu sagen. „Alle Leute“ waren ihre Kinder und Enkelkinder, sonst war niemand da. So war sie. Innen konnte alles zerfallen, aber die Fassade musste immer stimmen. Wenn sie sehen könnte, was ich heute alles öffentlich mache…
Oma hatte immer einen selbstgemachten Likör griffbereit auf der Fensterbank stehen. Und ein Glas daneben, das immer benutzt war. Als Kind durfte ich natürlich auch probieren und das süße Zeug schmeckte erheblich besser als Papas Bier, soviel war klar. Mein Opa B. war schon in Rente, als wir in das Haus meiner Großeltern gezogen sind. Da war ich 4 und mein Bruder 1 Jahr alt. Opa war meistens unterwegs. Morgens fuhr er in die Stadt. Er ging dann zum Bäcker, Metzger und, wie ich heute weiß, in die Kneipe. Dann nach Hause, Mittagessen und Mittagsschlaf. Und nachmittags dann Spaziergang in der Natur. Manchmal durfte ich mit, für mich immer absolute Highlights. Ich war gern mit meinem Opa unterwegs. Erstens hat er mir viele Lieder beigebracht, die ich bis heute noch kenne. Meine Leidenschaft für das Singen wurde sicherlich auch auf diesen Nachmittagspaziergängen geboren. Außerdem gingen wir zum krönenden Abschluss unserer gemeinsamen Ausflüge ja auch immer in Opas Stammkneipe. Dort gab es das ein oder andere „Herrengedeck“ (Bier und Schnaps) für Opa und eine Limo und eine Frikadelle für mich. Oft habe ich den alten Herren dort ein Lied vorgetragen und Opa war sichtlich stolz auf seine Enkeltochter.
Der Alkoholkonsum von Oma M. und Opa B. war somit so offen wie offensichtlich, jedoch nichts, worüber sich irgendjemand Gedanken gemacht hätte zu jener Zeit. Auch der Alkoholismus der beiden Söhne hatte aus Sicht der Dorfgemeinschaft nichts mit diesem rechtschaffenen und „gut-katholischen“ Paar zu tun, denn schließlich galt ja Alkoholismus weithin als reine Charakterschwäche. Die armen Eltern hatten wohl einfach Pech.
Der Alkoholismus meiner Mutter wurde nie offiziell benannt. Mein Vater steckte so tief in der Co-Abhängigkeit, dass er ihn nicht sah, gar nicht sehen konnte. Und wir Kinder ohnehin nicht. Erst rückblickend sind mir Dinge in Erinnerung gekommen und die Puzzleteile an die richtigen Stellen gerückt.
Ich erinnere mich an so viel Streit zwischen meinen Eltern, an den unberechenbaren Jähzorn meiner Mutter und ihre Gewaltausbrüche. Als Kind habe ich mir oft gewünscht, meine Eltern würden sich scheiden lassen und ich dürfte bei meinem Vater leben.
Achja, mein anderer Opa, A., starb an einer Leberzirrhose als ich 4 war. Auf dieser Seite der Familie auch keine heile Welt in Sicht.
Mein erster Mann war schon ein schwerer Trinker, als ich ihn kennengelernt habe. Das war 1992, da war ich 16 und er 19 Jahre alt, er hatte gerade zum ersten Mal seinen Führerschein abgeben müssen wegen einer Fahrt mit 2,6 Promille, bei der mehrere Autos schwer beschädigt und nur durch ein Wunder niemand verletzt wurde. Im Laufe der Jahre hat er viele Autos zu Schrott gefahren, viele Motorroller, dennoch wurde sein Alkoholkonsum erst 2007 zum Thema. Ich habe mich oft gefragt, wie ich denn trotz meiner familiären Vorgeschichte diesen Mann heiraten und mit ihm zwei Kinder bekommen konnte. Wie es denn sein konnte, dass ich all die Jahre wirklich nicht gesehen oder auch nur geahnt habe, was da wirklich bei ihm los war. Erst im Rahmen meiner eigenen Heilungsreise habe ich begriffen, dass ich nicht trotz, sondern gerade wegen meiner Geschichte und der familiären Verflechtung mit dem Alkohol so blind auf diesem Auge war. Ich kannte nichts anderes als Streit, Drama, Gewalt, Heimlichtuerei, Fassade halten, Chaos. Ja, sicherlich hatte ich unbewusst den Wunsch in meiner eigenen Familie alles anders zu machen. Aber gleichzeitig kam ich zu der Zeit nicht raus aus dem Muster. Heiratete das Drama, dem ich doch so sehr entfliehen wollte.
2008 dann die Trennung noch während der Langzeitreha meines Ex. In dem Jahr habe ich auch meinen zweiten Mann kennengelernt und konnte mit ihm endlich zur Ruhe kommen. Auch meine Kinder sagen bis heute, wie heilsam die Scheidung war und wieviel Frieden und Heilung durch Alex in unsere Familie gekommen ist.
Verrückterweise war Alkohol für mich selbst kein großes Thema, solang ich mit meinem Ex zusammen war. Ich vermute rückblickend, es lag daran, dass ich zu der Zeit die volle familiäre Verantwortung zu tragen hatte und daher nüchtern blieb. Nüchtern zu sein war für mich selbstverständlich.
Bei Alex konnte ich lernen zu vertrauen, die Kontrolle auch mal abzugeben. Es war sicher, angetrunken zu sein, denn bei ihm würde mir nichts passieren. Und so schlich es sich dann ein, das Biest Alkohol. Heimlich, still und leiste über 12 Jahre, mit vielen Pausen, ohne vollkommen zu eskalieren. Bis zur Corona Pandemie- aber das ist einen weiteren Artikel wert.
Also- wie konnte es soweit kommen? Wie konnte es sein, dass ich ein Alkoholproblem bekam, obwohl ich es doch anhand all der negativen Beispiele in meinem Umfeld soviel besser hätte wissen müssen?
Ich denke ein wichtiger Teil der Antwort lautet: ich habe den Alkohol trotz allem unterschätzt. Ich habe geglaubt, was die Gesellschaft, die Industrie, die, die sich betäuben uns glauben lassen wollen: Wer zuviel trinkt, ist willensschwach. Wenn dein Konsum aus dem Ruder läuft, ist nicht der König Alkohol das Problem. Du bist das Problem. Du bist „der Alkoholiker“, alle anderen können ja „normal“ trinken, also stimmt mit dir was nicht.
Es hat Jahre gedauert, viel Wissen, eine therapeutische Ausbildung, um zu begreifen, wie verlogen diese Sicht auf den Alkohol ist. Und wie vielen Menschen es so geht, wie es mir jahrelang ging. Die (lach) „normal“ trinken, sich völlig im gesellschaftlich akzeptierten Rahmen bewegen, ihr „Feierabendbier“ oder ihren „Belohnungswein“ „genießen“- und gleichzeitig mit beiden Füssen an einem glitschigen Abgrund stehen.
Meine Herkunftsfamilie ist total kaputt. Alle sind tot oder zerstritten. Niemand hat mit niemandem Kontakt, meine Eltern habe ich seit über 20 Jahren nicht gesehen. Das ist drastisch, war aber absolut notwendig, um irgendwie heilen zu können. Um mich nicht zu verlieren. Um den Teufelskreis für mich, meinen Mann und meine Kinder zu durchbrechen.
Oft ist es ein hartes Stück Arbeit. Manchmal geht es ganz leicht. Und IMMER lohnt es sich.