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24.8.2024
500 Tage Freiheit
Hallo Du. Schön, dass du du vorbeischaust. Ich will von Anfang an ganz ehrlich zu dir sein: Ich habe vom Schreiben keine Ahnung. Wenn du das hier liest, bist du Teil eines Experiments, das mein umtriebiger Kopf sich ausgedacht hat. Mein Herz meinte „einfach mal machen“ und hier sind wir. Danke schonmal, dass du meinem Text deine Zeit schenkst.
Aber worum geht es? Tja, um bei der Wahrheit zu bleiben, weiß ich das selbst nicht so genau. Mir war es wichtig jetzt einfach mal anzufangen.
Gestern teilte mir mein Kalender mit, dass ich seit 500 Tagen nüchtern, also ohne Alkohol, lebe. Dieser Punkt ist als Startpunkt genauso gut wie jeder andere. Also starten wir hier.
Mit wem hast du es zu tun? Ich bin 1975 geboren, Mutter von drei erwachsenen Kindern und mit einem tollen Mann verheiratet, von dem du sicher noch hören wirst. Mein Leben ist bunt und das ist es immer schon gewesen, seit ich mein graues tristes Elternhaus hinter mir gelassen habe mit 18 (auch dazu sicherlich später mehr).
„Was machst du beruflich?“ Für die meisten Menschen ist das sicher eine einfache Frage. Bei mir geht es gleich los im Kopf (Wieviel erzähle ich? Dauert das nicht zu lange? Klingt wie angeben oder?). Um es kurz zu machen bin ich Sozialpädagogin, Dozentin, systemische Beraterin, angehende systemische Therapeutin, Sängerin, Entertainerin und Vocalcoach und auf dem stetigen Weg zur digitalen Nomadin und Weltreisenden. Mein Mann und ich arbeiten derzeit noch als Gesangsduo auf Touristenschiffen und haben daran sehr viel Freude. Und nebenbei bauen wir unser Online Business auf (keine Sorge, ich brauche dich nicht für mein „Team“! 😉). Unser Entschluss steht fest spätestens 2027 Deutschland zu verlassen und zu reisen. Dafür brauchen wir ein ortsunabhängiges Einkommen. So arbeite ich momentan schonmal als Dozentin für mehrere Online Weiterbildungsinstitute und wir bauen das Schritt für Schritt aus. Das ist allerdings ein eigenes und nicht gerade kleines Thema, mit dem ich mich in weiteren Texten definitiv noch befassen werde.
Doch jetzt zunächst mal die Frage, wie ich da überhaupt hingekommen bin, zu dieser festen und klaren Vision meiner Zukunft und der Kraft, diese in die Tat umzusetzen.
Rückblende: März 2023.
Zu dieser Zeit waren wir gerade von einer zweimonatigen Reise durch Vietnam und Kambodscha zurück. Es war wild, aufregend, fantastisch, inspirierend. Und ich wurde auf dieser Reise einmal mehr mit meinem Kontrollverlust in Bezug auf Alkohol konfrontiert. Nach außen war das immer noch nicht klar. Ich habe immer „funktioniert“ und meine Fassade war weiterhin tadellos. Aber der Alkohol hat immer mehr meinen Tag strukturiert, ich habe tagsüber dem Punkt entgegengefiebert, wo ich endlich akzeptiertermaßen anfangen konnte zu trinken, um meine Nerven zu beruhigen. Und im Urlaub ist ja dieser gesellschaftlich akzeptierte Zeitpunkt deutlich nach vorn gerückt. Im Urlaub ist gegen ein Bier (oder zwei) zur Mittagszeit ja nichts einzuwenden. Tausende deutsche All-Inclusive-Urlauber können nicht lügen. Und wenn der Urlaub dann 8 Wochen dauert und Hitze und Zeitverschiebung und tausende neue Eindrücke hinzukommen, dann hat man einen Cocktail, der sich gewaschen hat (sorry für den Wortwitz).
Stell dir das nicht so vor, dass ich da durch die Gegend getorkelt wäre. No, sir! Ich hatte äußerlich immer alles im Griff. Innerlich war ich jedoch täglich zwischen dem Kater des Todes und dem seligmachenden Pegel unterwegs.
Und dann bin ich tatsächlich gestürzt. Im Rückblick noch Glück gehabt, es war nur eine fiese Bänderdehnung im Fuß. Aber den zweiten Monat unserer Reise habe ich dann noch Schmerzmittel zum Cocktail addiert und bin auf einem Bein durch Angkor Wat gehüpft. Für meinen Mann war selbst da noch nicht klar, dass der ganze Unfall mit meinem Alkoholkonsum zu tun hatte. Für mich schon. Und ich wusste, dass es so nicht weitergeht. Nicht weitergehen kann.
Wieder zuhause habe ich mich psychisch so schlecht gefühlt wie lange nicht. Ich war bei 105 Kilo Körpergewicht angekommen, hatte Bluthochdruck, meine Hüfte und mein Rücken schmerzten. Ich hatte mein Ziel verloren, meine Orientierung. Wir hatten diesen vagen Wunsch auszuwandern, noch viel mehr von der Welt zu sehen. Aber wie sollte das gehen? Von der Couch aus die Welt zu erobern ist nicht drin. Ich wusste, solang ich weiterhin meine Gefühle betäube statt mich mal wirklich mit ihnen und meinen Wünschen auseinanderzusetzen, wird das nie was. Ich werde älter und verliere dann komplett meine Energie. Wobei ich mir in dem Moment kaum vorstellen konnte, wie man sich noch ernergieloser fühlen könnte.
Mir war total klar, dass ich eine absolut toxische Beziehung zu Alkohol hatte. Dass ich trank „um zu“: Um lockerer zu sein, um Spaß zu haben, um die Sorgen zu vergessen, um das Gedankenkarussel anzuhalten, um meine Gefühle nicht abarbeiten zu müssen und und …
Und ich hatte wahnsinnige Angst davor, diesen falschen Freund gehen zu lassen. Vielleicht ist es wie das, was manchen Menschen in einer zerstörerischen Beziehung verharren lässt. Die Beziehung ist die Hölle, aber die Hölle die man kennt ist immer noch besser als diese wahnsinnig bedrohliche Leere des Alleinseins.
Außerdem habe ich die ganzen Lügen geglaubt, die uns die Gehirnwäsche der Alkoholindustrie über viele Jahrzehnte erfolgreich eingetrichtert hat. Ohne Alkohol ist dein gesellschaftliches Leben am Ende. Du wirst nie wieder Spaß haben. Nie mehr locker sein oder auf Partys dich einfach frei und lustig fühlen. Keinen Alkohol zu trinken bedeutet lebenslangen Verzicht, du wirst immer die miesepetrige und misanthrope „trockene Alkoholikerin“ sein, die ab sofort zum Lachen in den Keller geht. Öfter aber zum Weinen.
Ich habe das so sehr geglaubt, dass ich ganz lange verzweifelt versucht habe, mein Trinkverhalten zu kontrollieren. Trinken nur an bestimmten Wochentagen. Nicht wenn ich am nächsten Tag arbeite. Nicht bei der Arbeit (ja, für Musiker nichts Besonderes). Nur eine gewisse Menge usw…es ging nicht. Egal, wieviel Energie ich auch in die Kontrolle investierte: Ich konnte das nicht kontrollieren. Ganz oder gar nicht. Sekt oder Selters. Nüchternheit oder Selbstaufgabe.
Gerettet hat mich am Ende das Buch „Nie wieder Alkohol“ von Alan Carr und die großartige Arbeit von Nathalie Stüben. Dort habe ich zum ersten Mal gehört, dass keinen Alkohol zu trinken FREIHEIT bedeutet. Und dass man viel Spaß hat als nüchtern lebender Mensch. Richtigen, echten, unverfälschten Spaß. Weil mein Gehirn die „Spaßdrogen“ wieder selbst herzustellen lernt, statt ständig von außen damit geflutet zu werden. Spaß ohne Reue, ohne Kater, ohne peinliche Auftritte, Stürze usw. Nicht mehr ständig alles kontrollieren müssen.
Das alles klang so fantastisch, so verlockend. Irgendwie fast zu schön um wahr zu sein. Aber ich erinnerte mich an eine ganz bestimmte Situation, als ich 2009 mit dem Rauchen aufgehört hatte. Es war zäh und schwierig für eine Weile. Und dann gab es einen Moment, wo ich mich auf den Weg zu einer Party gemacht habe und mir ganz bewusst wurde, ich brauche jetzt NICHT darauf zu achten, dass ich genügend Zigaretten habe, dass ich irgendwo welche kaufen kann, dass ich Feuer habe, wo ich rauchen kann. Da habe ich diese FREIHEIT von der Sucht so richtig tief gespürt.
Der Beginn der Nüchternreise
Und so habe ich mich dann am 12. April 2023 endlich getraut. Am diesem Morgen entschied ich, dass das jetzt mein letzter Kater sein wird. Und weil „für immer“ einfach sehr lang ist und sehr bedrohlich wirkt, habe ich das in kleinere Einheiten zerlegt. „Für heute“ und wenn das zu groß wirkte dann eben „für die nächsten 20 Minuten“ (bis die Cravings vorbei sind). Danke, Nathalie!
Am Anfang war es manchmal schwierig, weil viele Situationen klar mit dem Alkohol verknüpft waren. Das erste Mal aufs Schiff (also zur Arbeit) ohne zu trinken. Das erste Mal einen Abend Zuhause ohne zu trinken. Das erste Mal kochen ohne zu trinken. Das erste Mal einkaufen ohne Alkohol zu kaufen. Mein Mann hat mir die Sache sehr erleichtert, indem er von Anfang an mitgemacht hat. Er hatte nie diese toxische Beziehung zum Alkohol. Und als ich ihm erzählt habe, was ich vorhabe, hat er einfach meine Hand genommen und gesagt: Du musst da nicht allein durch.
Dafür bin ich ihm unendlich dankbar.
Dennoch hatte der Tag plötzlich so viele Stunden. Der Abend war so lang. Und diese Leere galt es nun zu füllen. Am Anfang habe ich mich viel berieseln lassen. Und ich habe alles zum Thema „Nüchternheit“ verschlungen, was ich in die Finger bekam.
Freiheit
Ich möchte dir von der Situation erzählen, wo ich die FREIHEIT zum ersten Mal richtig bewusst und groß in meinem Herzen gespürt habe.
Ich war 3 Monate nüchtern, da waren wir von einer Freundin nach Malaga in ihre dortige Wohnung eingeladen. Sie hat über eine Woche verteilt mit Freunden und Familien ihren Geburtstag gefeiert. Als ich zugesagt hatte, war ich noch auf der toxischen Seite unterwegs. Jetzt unter den neuen, nüchternen Voraussetzungen, hatte ich Angst vor dieser Reise. Spanien, das Land des Weins und der Fiesta. Fröhliche feiernde Menschen, das Meer, der Vino. Und ich. Frau Nüchtern. Ich wollte die Reise absagen. Ich wollte kneifen.
Wieder war es mein Mann, der mich ermutigt hat, mich der Situation zu stellen. Er sei an meiner Seite und es wäre doch gelacht, wenn ich das nicht schaffe. Und so sind wir dann geflogen, ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.
Am ersten Abend war zunächst alles genau so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Menschen um den Tisch, Tapas und Weingläser dazu, fröhliches Geplauder. Dazwischen mein Mann und ich mit Softdrinks. Ich habe alles um mich herum aufmerksam beobachtet. Im Vorfeld hatte ich mir bereits vorsorglich die Erlaubnis erteilt, in einen langen Spaziergang zu flüchten, sollten die anderen mir allzu feuchtfröhlich werden. Die Wirklichkeit war aber, dass die anderen nur sehr moderat tranken. Zwei Flaschen Wein zu fünft über den Abend verteilt.
Oder- wie ich es vor meiner Nüchternreise wahrgenommen hätte- NICHTS.
Und es war ein schöner Abend, fröhlich und voller netter Gespräche, ohne Drama und betrunkene Verbrüderungen.
Am nächsten Morgen genoss ich wie immer das katerfreie Aufwachen. Bis heute bekomme ich nicht genug von dem Gefühl, morgens erfrischt und erholt zu erwachen und richtig Lust zu haben auf den Tag, der vor mir liegt. Ich bin gleich allein aufgebrochen. Ein langer Spaziergang durch diesen schönen Ort und dann eine einsame Bank an der Strandpromenade. Um diese Uhrzeit am Morgen war die Stimmung magisch, es war noch menschenleer. Die Zeit am Morgen ist perfekt geeignet, um zu neuen Erkenntnissen zu kommen. Auf dieser Bank ist es zum ersten Mal richtig durchgesackt in mein Bewusstsein:
ICH BIN FREI!
Dieser vorherige Abend wäre zu meiner Trinkerzeit mega stressig für mich gewesen. Nichts war mir mehr verhasst, als solche moderaten Trinker. Schliesslich wollte ich ja nicht negativ auffallen, indem ich allein zwei Flaschen Wein trinke, während die anderen sich zu fünft die gleiche Menge teilen. Aber so wenig zu trinken wie die anderen, wäre auch definitv keine Option gewesen. Das hätte ja den Pegel nicht mal annähernd auf das angestrebte „Soll“ gebracht. Also hätte ich das irgendwie heimlich regeln müssen. Eine Flasche im Koffer? Ein einsamer „Spaziergang“ zur Bar um die Ecke. Vorher natürlich bei Google die Öffnungszeiten checken! Wie lang hat der Supermarkt auf? Wie weit ist das? Fährt ein Bus? Woher bekommt man in Spanien ein Taxi? Vielleicht warten bis alle schlafen und dann einfach auf dem Balkon das Mitgebrachte trinken? Aber wie soll ich es dann schaffen, solange nur moderat zu trinken vor den anderen? Wann gehen die wohl ins Bett? Welche Ausflüchte könnte ich vorschieben, um allein losziehen zu können und relativ lange wegzubleiben? Wieviel Wein kann ich wohl vor den anderen trinken können, sodass sie es noch „ok“ finden? Offene Küche, wie in dem Fall, auch total doof. Sonst könnte ich mich ja freiwillig zum Kochen/ Abwaschen melden und dabei vielleicht heimlich trinken…
Ich denke es ist offensichtlich, dass ich den Abend nicht hätte geniessen können. Der Abend und der gesamte Tag vorher wären nur unter der Überschrift „Beschaffungsprobleme“ gelaufen.
Und nun saß ich auf dieser Bank. Ohne Kater. Ausgeruht. Und hatte einen richtig schönen Abend gehabt. Ein einfaches Gespräch mit anderen Menschen geführt und genossen. Einfach das getrunken, was da war ohne die Gefahr „aufzufliegen“.
Es klingt so banal. Und irgendwie ist es das ja auch. Aber für mich war das meine neue, hart erkämpfte und endlich wiedererlangte FREIHEIT. Und auf dieser Bank in Malaga habe ich das plötzlich ganz tief gespürt. Ich war erfüllt von tiefer Dankbarkeit und die Tränen liefen über.
Wie ging es weiter?
Hier soll es nicht in erster Linie um meine Nüchternheit gehen. Sie spielt eine große Rolle um zu verstehen, wer ich bin und was mich antreibt. Der Entschluss nüchtern zu leben, hat ganz viele andere Entwicklungen erst möglich gemacht. In den letzten 500 Tagen habe ich viel Zeit damit verbracht zu reflektieren, wer ich eigentlich bin und was mich im Innersten antreibt. Es ist und bleibt eine spannende Reise. Wenn du Lust hast, kannst du mich ja ein Stück auf dieser Reise begleiten. Das nächste große Etappenziel ist der Aufbau eines stabilen Online-Einkommens, die erfolgreiche Beendigung meiner Ausbildung und der Aufbruch zu unserer Weltreise ab spätestens 2028. Ich brauche dir sicherlich nicht extra zu erklären, dass diese große Etappe noch in viele kleine Einzelziele zerlegt werden muss. Und da wird es sicherlich noch einige Umleitungen und Sackgassen geben. Und der Weg ist noch weit.
Dennoch gibt es einen großen Unterschied zu der Situation 500 Tage zuvor. Ich habe eine VISION.
Kennst du den Kompass von Captain Jack Sparrow? Der Kompass bringt dich dorthin, wo du am sehnlichsten sein möchtest. Ohne ein Ziel ist der Kompass wertlos und zeigt nichts an. Mein Kompass hat jetzt aufgehört sich zu drehen und der Pfeil zeigt eindeutig in eine Richtung.
Die Energie für diese klare Vision meiner näheren Zukunft hätte ich nie aufbringen können, solang ich sie mir vom Alkohol habe rauben lassen. Alkohol ist ein sehr verräterischer Freund. Bei mir hat er für alle Zeit verkackt. Wenn du mich begleitest, wirst du noch einiges von ihm hören. Und auch von seinen Brüdern Selbstzweifel, Selbstzerstörung, Selbstverleugnung und Opferrolle.
Das wird sicherlich auch manchmal zäh beim Lesen, weil es dich vielleicht auch an deine Grenzen führt oder auch darüber hinaus. Das ist ok. Sei nett zu dir selbst. Wachstum schmerzt, die Erfahrung mache ich auch jeden Tag. Aber ohne Wachstum steht man still. Und, um den Kreis zum Anfang zu schließen: ein trauriger Klops auf dem Sofa wird von dort aus kaum die Welt erobern.
Pass auf dich auf. Bis bald.